Bücherstapel | Marina & Sergey Dyachenko „Vita Nostra“

„The world, as you see it, is not real. And the way you imagine it – it does not even come close. Certain things seem obvious to you, but they simply do not exist.“

Eine lebensverändernde Begegnung

Alexandra Samokhina, genannt Sasha, macht mit ihrer Mutter Urlaub am Meer. Eines Tages spricht sie ein Unbekannter mit Sonnenbrille an und verlangt von ihr, jeden Morgen um vier nackt schwimmen zu gehen. Einen Vorgeschmack, was passiert, wenn sie sich weigert, bekommt Sasha, als sie einmal verschläft und die Urlaubsbekanntschaft ihrer Mutter prompt einen Herzinfarkt erleidet. Nach dem Urlaub geht das Leben normal weiter und das Erlebnis gerät bald in Vergessenheit. Da taucht der Unbekannte erneut auf und gibt Sasha eine neue Aufgabe, bevor man sie zum „Institute for Special Technologies“ in Torpa einbestellt. Und dort wird alles noch viel schlimmer.

„Not everyone can handle what this does to a person. You have been carefully selected, and you all have what it takes to make that journey successfully. Our science does not tolerate weakness and takes cruel revenge on laziness, on cowardice, and on the most infinitesimal attempt to avoid learning the entire curriculum. Is that understood?“

Ein Buch, das einen mit Haut und Haaren verschlingt

Mit viel Glück begegnet einem alle paar Jahre mal ein Buch, das einen völlig unerwartet trifft und für eine Weile zum Mittelpunkt jedes wachen Gedankens wird. Marina und Sergey Dyachenkos „Vita Nostra“ war genau das für mich – und ich ahnte es nicht, als ich mir den Titel aus einem Artikel über magische Lehrer und Mentoren herauspickte. Vielleicht war es das irgendwie verstörende Cover, vielleicht auch die Formulierung „extremely advanced applied linguistics“, was mich ansprach, ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall musste ich mich anschließend Abend für Abend zwingen, das Buch beiseite zu legen und endlich schlafen zu gehen.
Es ist jedenfalls volle Absicht, dass meine Zusammenfassung kaum mehr als das Vorgeplänkel der Handlung erfasst. Im Grunde ist alles, was man über den Inhalt des Buches sagen könnte, bereits ein Spoiler, denn Kern der Geschichte ist die Ungewissheit. Das Gefühl, in etwas hineingeworfen zu werden, das man nicht im Ansatz versteht, vor dem es jedoch kein Entrinnen gibt. Und damit einhergehend die Angst, dass geliebte Menschen bestraft werden, wenn man etwas falsch macht oder in den Augen der Professoren nicht fleißig genug ist.
Geht es in „Vita Nostra“ um Magie? Jein. Ich kann mir vorstellen, dass es Leser gibt, die mit dieser Erklärung vollauf zufrieden sind, während andere der Meinung sind, dass die Antwort ganz klar Nein lautet. Und sicher, einiges, was Sasha im Institut erlebt, lässt sich am einfachsten mit Magie erklären. Tatsächlich aber geht es bei den „Special Technologies“ um nichts geringeres als das Gefüge der Realität, um die Strukturen des Körperlichen wie des Geistigen, um Metamorphose und … in der Tat Linguistik. Am Anfang war das Wort.
Letzten Endes schreibe ich diese Rezension nur, weil ich mir wünsche, dass noch viel mehr Menschen dieses Buch lesen, und nicht, um im Detail darüber zu sprechen. „Vita Nostra“ war die seltsamste, berauschendste und ja, auch beängstigendste Leseerfahrung meines Lebens. Sasha muss Texte auswendig lernen, die reines Kauderwelsch sind. Sie muss mentale Übungen machen, die sie körperlich verändern. Sie muss sich CDs mit unterschiedlichen Arten von Stille anhören, die direkt in ihre Seele kriecht. Und während der ganzen Zeit weiß sie nicht, was sie da eigentlich lernt, oder mit welchem Ziel. Furcht ist ihr ständiger Begleiter, das sickert durch jede Zeile und hat mich sogar bis in meine Träume verfolgt.
Dass Nebenfiguren dabei blass bleiben, ist vielleicht auch eine erzählerische Entscheidung, denn Sashas Weg ist am Ende ein einsamer. Mich jedenfalls hat das in diesem Fall nicht gestört, denn die Handlung selbst ist so komplex und saugt einen über die 400 Seiten vollständig ein. Immer wieder sagen die Professoren ihren Studenten, dass sie ihnen nicht erklären können, was sie lernen, weil sie es selbst erfahren müssen. Das lässt sich fast eins zu eins auf das Buch selbst übertragen, denn am Anfang ist alles seltsam und unverständlich, doch wie Sasha eröffnet sich uns nach und nach die Bedeutung von allem. Und ja, in gewisser Weise ist das natürlich eine sehr, sehr elaborierte Metapher für den oft schmerzhaften Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein.
Die schlechte Nachricht ist, dass „Vita Nostra“ nur in englischer Übersetzung erhältlich ist. Und da die russischsprachige Originalausgabe bereits 2007 erschienen ist, halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass noch eine Übersetzung ins Deutsche kommen wird. Ich selbst fand die englische Ausgabe indes gut lesbar. Mittlerweile ist auch eine direkte Fortsetzung mit dem Titel „Assassin of Reality“ erschienen, die offenbar gezielt für den amerikanischen Markt geschrieben wurde und durchwachsene Kritiken hat. Auf Russisch gibt es außerdem zwei weitere Bände („Digital, or Brevis Est“ und „Migrant, or Brevi Finietur“), die aber wohl nur thematisch mit „Vita Nostra“ verbunden sind. Ob davon englische Übersetzungen geplant sind, kann ich leider nicht sagen. „Assassin of Reality“ liegt jedenfalls schon eine Weile hier bereit und wird demnächst endlich in Angriff genommen.
5 von 5 Bananen im dekonstruierten Stadium.