Meine Philosophie des Lesens oder: Wie ich Bücher auswähle & lese

„As you read a book word by word and page by page, you participate in its creation, just as a cellist playing a Bach suite participates, note by note, in the creation, the coming-to-be, the existence, of the music. And, as you read and re-read, the book of course participates in the creation of you, your thoughts and feelings, the size and temper of your soul.“ (Ursula K. Le Guin)
Wieso wir lesen, wie wir lesen und was wir lesen, ist mindestens so individuell wie die Sortierung des heimischen Bücherregals. Auch wenn die Erziehung oftmals den Grundstein legt, werden im Laufe des Lebens die eigenen Erfahrungen mit Büchern immer wichtiger. Mit jedem gelesenen Buch wird der Leseprozess einzigartiger. Ich will euch heute erzählen, wie Bücher auf meiner Leseliste landen, welche Leserituale ich habe, und wieso ich manche Romane rezensiere und andere wieder nicht.

Das Dilemma der stetig wachsenden Leseliste

Ich weiß noch, wie vor ein paar Jahren der Buchdealer meines Vertrauens seinen Onlineshop umbaute und ohne jede Vorwarnung meine Wunschliste verschwand. Sie konnte nach Protest zwar wiederhergestellt werden, aber in der Folge ging ich dazu über, meine Liste zusätzlich in ein Notizbuch zu schreiben. Worauf ich damit hinaus will, ist folgendes: Der Verlust dieser Liste von Büchern, die über Jahre gewachsen war, war im ersten Moment ebenso beängstigend wie befreiend.
In der Realität fände ich tabula rasa wahrscheinlich vor allem ärgerlich. Denn jedes der aktuell 27 Bücher auf meiner Liste steht dort aus gutem Grund. (Exklusive einer zweiten, kürzeren Liste mit Büchern, die neu genug sind, dass eine Übersetzung noch nicht gänzlich ausgeschlossen scheint.) Einmal auf der Liste, vergesse ich meist, woher der Tipp ursprünglich kam, oder was genau mich dazu bewogen hat, das Buch aufzuschreiben. Es wäre praktisch unmöglich, meine Wunschliste aus dem Nichts zu rekonstruieren.
Damit sind wir aber auch schon bei der Eine-Million-Dollar-Frage: Wo finde ich meinen Lesestoff? Auf Bestseller-Listen jedenfalls schon mal nicht, da Krimis, Thriller und Liebesschnulzen nicht zu meinen präferierten Genres gehören. Nein, der Großteil meiner Bücherliste beruht auf Tipps aus Onlinemagazinen. Tor.com beispielsweise bringt regelmäßig Top5 zu bestimmten Themen heraus – Bücher, in denen ein Wald die Hauptrolle spielt, Bücher über magische Mentoren, Bücher über dystopische Regierungsformen. Das Schöne an solchen Listen ist, dass sie sowohl Klassiker als auch Neuerscheinungen vorstellen und zuweilen auch eher unbekannte Autoren ins Rampenlicht rücken.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen

Ja blöd, wie wähle ich aus 27 Büchern nun das aus, das ich als nächstes lesen möchte? Theoretisch habe ich die Regel „first in, first out“, aber wir wissen alle, wie so etwas in der Praxis aussieht. Manchmal hat man nach zwei dystopischen Science-Fiction-Romanen eben Lust auf … nun, eben mal keine dystopische Science-Fiction. Was echt schwierig ist, weil ich irgendwie eine perverse Faszination für dieses Genre entwickelt habe und meine Leseliste voll davon ist.
Grundsätzlich verfolge ich den Ansatz, immer gleich drei Bücher auf einmal zu kaufen. Müsste ich jedes Mal, wenn ich eines ausgelesen hab, aus den 27 wählen, ich würde wahnsinnig werden. Dass es manchmal auch vier oder fünf sind, weil zwischendurch noch eins aus dem öffentlichen Bücherregal dazu gekommen ist, spielt keine Rolle. Es geht darum, stets nur einen kleinen Pool zu Auswahl zu haben, um schneller eine Entscheidung treffen zu können.
Welche drei Bücher ich jeweils kaufe, hängt indes von vielen Faktoren ab. Wie gesagt nehme ich idealerweise zuerst die, die weiter unten auf der Liste stehen. Zuweilen ist aber bei den Neuzugängen auch eines dabei, auf das ich wirklich gespannt bin, dann wird das schon mal bevorzugt. Und ist gerade was von meiner Liste im Angebot, ist das freilich eine unschlagbare Entscheidungshilfe. Auch wichtig: Bleibt etwas auffällig lange auf der Liste, ohne dass ich es kaufe, wird reevaluiert.

Darf es auch digital sein?

Ja, ich gestehe, ich habe E-Books einmal als die Tütensuppen der Buchindustrie bezeichnet. Zu meiner Verteidigung: Das war, bevor E-Books anfingen, fast genauso viel zu kosten wie ihr physischer Gegenpart, Autoren also auch signifikant weniger daran verdienten. Heute ist das für mich keine Glaubensfrage mehr. Seien wir ehrlich, mehrere Umzüge mit Unmengen tonnenschwerer Bücherkartons haben geholfen. Ganz zu schweigen von meinem längst übervollen Bücherregal.
Heute muss ein Buch schon eines der folgenden Kriterien erfüllen, um in physischer Form erstanden zu werden: 1) Es ist ein Bildband. 2) Ich nehme es kostenlos im öffentlichen Bücherregal mit. 3) Ich habe es bereits gelesen und fand es so toll, dass ich gerne mein Regal damit schmücken will. In diese Kategorie fallen auch aufwendige Prunkausgaben von Klassikern. 4) Es handelt sich um ein Buch, das nur noch antiquarisch zu haben ist. Selbst da schaue ich mittlerweile aber gerne, ob es vielleicht in der Originalsprache digital zu haben ist.
Kurzum, das E-Book ist bei mir längst die Regel. Ich schätze einerseits den Komfort, Zeilenabstand und Seitenrand individuell einstellen zu können, andererseits muss ich gerade bei sehr umfangreichen Werken nicht die ganze Zeit ein schweres Buch vors Gesicht halten. Doch in erster Linie ist es wirklich eine Platzfrage. Ich lese gute fünfzehn Bücher pro Jahr, darunter auch gerne mal den besagten 1.000-Seiten-Wälzer – das summiert sich. Und wer kann sich schon einen Anbau für seine Hausbibliothek leisten?

Lesen als Abendritual

Das überrascht jetzt vielleicht, aber inzwischen lese ich tatsächlich nur noch eine halbe bis ganze Stunde pro Tag. Es war mal deutlich mehr, als ich noch täglich eine Stunde zur Arbeit gependelt bin. Damals habe ich auch immer zwei Bücher parallel gelesen – eine „Bahnlektüre“ und eine „Bettlektüre“. Heute lese ich nur noch Abends vor dem Schlafengehen. Verloren habe ich dadurch meiner Meinung nach nichts, da ich nun zum reinen Vergnügen lese und eben nicht mehr als Zeitvertreib.
Für mich funktioniert das übrigens sehr gut. Zum einen schlafe ich wesentlich besser, seit sich das zu einer festen Routine entwickelt hat. Mein Körper hat gelernt, wenn ich lese, ist bald Schlafenszeit, und fährt ganz von selbst runter, so dass ich anschließend meist innerhalb weniger Minuten einschlafe. Zum anderen ist das Lesen etwas, worauf ich mich jeden Abend freue, weil es mich auch gedanklich zur Ruhe kommen lässt.
Bedenken, dass die Aufnahmefähigkeit kurz vor dem Schlafengehen eingeschränkt ist, kann ich übrigens nachvollziehen, meine Erfahrung ist aber eine andere. Gerade, weil in den Abendstunden nichts anderes mehr meine Aufmerksamkeit beansprucht, kann ich mich voll und ganz auf die Lektüre einlassen. Und im Ernst: Ist ein Buch sterbenslangweilig, kann man auch tagsüber problemlos darüber einschlafen.

Ein Marathon, kein Sprint

Ich bin kein ausgesprochener Schnellleser und erkenne auch wenig Sinn darin, einfach nur auf Masse zu lesen. Sicher, das Leben ist kurz und die Bücher unendlich, aber in gewisser Weise macht das ja auch den Reiz aus. Man muss sehr gewissenhaft auswählen, womit man seine Zeit verbringen möchte, und so entstehen einzigartige Lesebiographien. (Es könnte ein spannendes Projekt sein, einmal die Linien zu verfolgen, welches Buch zu welchem geführt hat.)
Im Grunde notiere ich auch erst, welche Bücher ich wann lese, seit ich ein Bullet Journal führe. Nicht mit dem Gedanken, zu tracken, wie lange ich jeweils brauche, sondern mehr zu Dokumentationszwecken. So kann ich irgendwann sagen, hey, das Buch habe ich im Sommer 2022 gelesen, da war das Wetter gerade Mist, und ich hab diese und jene Serie geguckt. (Ich weiß, ich bin schräg.) Seitdem vergebe ich übrigens auch eine Wertung, das wäre mir früher nie in den Sinn gekommen.
Im Durchschnitt brauche ich wohl etwas weniger als einen Monat für ein Buch, aber das hängt natürlich auch immer davon ab, wie dick es ist und wie gut ich es finde. Letztes Jahr habe ich insgesamt 16 Bücher gelesen, dieses Jahr sind es bis dato auch 16, so dass es auf ein ähnliches Ergebnis hinauslaufen wird. Und für mich ist das völlig okay, ich will ja auch was davon haben. Leute, die diese Menge in einem Monat schaffen, tun mir eher leid, weil das schon fast zwanghafte Züge annimmt.

Magie aus Worten

„Books are a uniquely portable magic“ sagte Stephen King einmal, und dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Ich habe nie verstanden, wie es Menschen geben kann, die nicht lesen; ganz bestimmt wissen sie nicht, dass sie auf diese Weise viele Leben leben können. Ich jedenfalls möchte um keinen Preis darauf verzichten, durch die Augen eines anderen zu blicken, fremde Welten zu besuchen, mich wohlig zu gruseln, faszinierende Charaktere kennenzulernen und diese ganz spezielle Sehnsucht zu spüren, wenn ich den Buchdeckel zuklappe und ein ganzes Universum hinter mir lasse.