„Wenn dereinst Archäologen nach Spuren der heutigen Kultur suchen, so wollen wir hoffen, dass von unserer Literatur nicht nur ein Autoaufkleber geblieben ist.“
(unbekannt)
Inspiriert von einer kleinen, spannenden Unterhaltung in meinen Kommentaren möchte ich heute einmal über die Themen Vermächtnis und Vergänglichkeit sprechen. Wie einige vielleicht wissen, habe ich Archäologie studiert und interessiere mich deshalb vor allem für die physische Geschichte der Menschheit, für ihre greifbaren Hinterlassenschaften. Doch wie viel und vor allem was wird von uns später einmal zurückbleiben?
Archäologie ist Detektivarbeit
Es heißt nicht umsonst, Geschichte wird von Siegern geschrieben – schriftliche Zeugnisse können irreführend, missverständlich oder schlicht falsch sein. Vor allem aber behandeln sie nur einen sehr engen Korridor des menschlichen Lebens. Welcher König wann regierte oder welches Gesetz erließ, sagt uns nur wenig über den Alltag der Menschen jener Epoche. Wie die Leute tatsächlich gelebt, gewohnt, gegessen haben, wie sie gestorben sind und getrauert haben, das wissen wir von den Dingen, die in der Erde zurückgeblieben sind.
Die Arbeit eines Archäologen hat erstaunlich viel mit der eines Detektivs zu tun. Wir suchen nach Beweisen, analysieren die Zusammensetzung von Keramik und Metallgegenständen, untersuchen Knochen und erstellen am Ende eine Art „Tathergang“. Dass das funktioniert, liegt vor allem daran, dass die Beweiskette nicht unterbrochen wurde. Wenn wir ein Keramikgefäß finden, können wir es als solches deuten, weil heutige Gefäße noch immer darauf basieren. Schmuck trugen unsere Vorfahren ebenso wie wir heute. Dass andererseits ein Gegenstand wie die Himmelsscheibe von Nebra für so viel Spekulation sorgt, liegt auch daran, dass wir heute nichts Vergleichbares mehr haben.
Ist das Kunst oder kann das weg?
Wie wird die Arbeit von Archäologen wohl aussehen, wenn wir einst historisch geworden sind? Eines ist sicher: An unserem Müll werden die Menschen, die nach uns kommen, noch lange Zeit „Freude“ haben. Und wer weiß, vielleicht lässt sich aus Plastiktüten ja auch etwas lernen. (Oder wird man in ferner, plastikloser Zukunft schon vergessen haben, wozu Tüten da sind, und ganze Dissertationen über diese seltsamen Gebilde schreiben?)
Abgesehen davon können wir aber davon ausgehen, dass zu großen Teilen die gleichen Dinge zurückbleiben wie schon immer. Überreste von Gebäuden zum Beispiel, die Rückschlüsse zulassen, wie wir gewohnt haben. Kochgeschirr und Gefäße aller Art natürlich, und nicht mehr nur aus Keramik oder Metall, sondern auch aus Kunststoff. Schmuck sowieso. Aber würde man anhand dieser Funde wirklich auf unsere heutige Gesellschaft schließen können? Wo – abgesehen von anderen Materialien – liegt der Unterschied zum Mittelalter?
Unsere Kultur der Daten
Natürlich ist das zugespitzt. Mir geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie immateriell unsere Zeit ist. Den Großteil unseres menschlichen „Reichtums“ machen heute Daten aus, die auf irgendwelchen Servern lagern, in Clouds herumschwirren oder auf Datenträgern aller Art gesammelt werden. Und hier begegnen wir auch der Beweiskette wieder, denn alles, was nicht kontinuierlich weitergetragen wird, ist irgendwann verloren. Unwiederbringlich.
Erstmals begegnete mir der Gedanke in Alexander Stilles Buch „Reisen an das Ende der Geschichte“, im Kapitel „Verlieren wir unsere Erinnerung? Oder das Museum der obsolet gewordenen Technologie“. Hand hoch, wer besitzt noch einen Videorekorder? Ein Diskettenlaufwerk? Einen USB-Slot? Das Problem sind nicht die Daten, sondern die Datenträger, die durch immer schnelleren technischen Fortschritt innerhalb von Jahrzehnten aus dem Alltag verschwinden. Und Daten, die nicht vorher auf einen anderen Träger transferiert werden, kann man irgendwann nicht mehr auslesen.
Was wird von uns bleiben?
Natürlich wird auch vieles bleiben, weil es immer weitergetragen wird, aber es wird nur noch ein Ausschnitt sein. Eine Auswahl, die von den unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wird. Bücher überleben, wenn sie populär genug sind, um in jeder Generation aufs Neue gedruckt zu werden. Musik, wenn sie immer wieder gespielt wird. Wer werden wohl einmal unser Shakespeare und unser Beethoven sein? Wird auch nur irgendein Film, den wir heute kennen, in 500 Jahren noch da sein?
Ich glaube nicht, dass wir realistisch einschätzen können, was uns überdauern wird. Aber es ist ein faszinierender Gedanke, der mich schon seit vielen Jahren begleitet. Vielleicht wird sich Archäologie immer ausschließlich auf die Grundbedürfnisse des Menschen beschränken können, auf das Wohnen, Kochen und Sterben. Vielleicht war auch das Leben unserer Vorfahren viel facettenreicher, als wir uns das heute vorstellen können – einfach, weil die materiellen Zeugnisse nicht überlebt haben. Und diese Vorstellung macht einen doch irgendwie sehr demütig.
Zur Frage, was von uns bleibt, stehe ich zwiespältig.
Ohne Kinder weiß ich, dass sich in spätestens 60 Jahren niemand mehr an mich erinnern wird. Das ist erst einmal ein trauriger Gedanke, und Menschen haben Kinder u.a. auch aus dem Grund, sich so ein kleines bisschen Unterblichkeit zu erkaufen. Aber dann wird mir bewusst, dass sich das Vergessen nur ein oder zwei Generationen lang zurückdrängen lässt und dann doch zuschlägt – oder erinnert sich hier noch jemand an Ur- oder Ururgroßeltern oder weiß mehr als maximal deren Namen?
Vergessen zu werden, auch im globalen Sinn, ist also Teil des Lebens. Neue Dinge erscheinen, neue Ideen, kreative und intellektuelle Werke, und dafür geht viel verloren. Nur sehr wenige, (positiv wie negativ) herausragende Persönlichkeiten, Ideen oder Werke bleiben im Gedächtnis der Menschheit. Und wenn man einen weiteren Schritt zurück tritt und sich die Erde als winzigen, unbedeutenden Fleck im Universum betrachtet, sind selbst diese irgendwann unsichtbar.
Ich glaube, man muss die Angst – oder zumindest das latente Unbehagen – davor verliereren, dass Dinge verloren gehen und vergessen werden. Ich richte meinen Blick ebenso gerne zurück wie nach vorn und freue mich über jede neue Erkenntnis, jedes neue kreative Werk, auch wenn ich weiß, dass beides wohl nicht von Dauer sein wird.
(Lyrisch könntest du es Das Große Atmen der Existenz nennen, wie beim Einatmen alles entsteht und seine Blüte hat, und beim Ausatmen wieder verblasst und verschwindet. Ich stelle mir das gerne so vor, es hilft einzuordenen, wie normal und auch wichtig die Vergänglichkeit ist. Denn ohne ausatmen, könntest du nicht mehr einatmen und würdest an der angesammelten, alten Luft regelrecht ersticken.)
Nun, zur Frage, WIE man sich an uns erinnert … Das lass ich jetzt mal mit breitem Grinsen stehen. 😉
P.S.: Schöner Artikel, und ich mag die neue Formatierung sehr.
Stimmt, als Eltern hat man da bestimmt noch mal einen ganz anderen Blick drauf. Wenn ich so darüber nachdenke, hat mich die Thematik, obwohl sie mich schon lange beschäftigt, nie emotional berührt. Ich will nicht behaupten, dass es kein komisches Gefühl ist, ein Steinwerkzeug in der Hand zu halten und zu wissen, dass damit vor langer, langer Zeit jemand gearbeitet hat. Aber ich meine, persönlich habe ich mir nie groß Gedanken darüber gemacht, was von mir bleibt. Selbst die Vorstellung, dass eines meiner Bücher ein paar Generationen nach mir noch gelesen wird, ist letzten Endes nur der klassische Wunschtraum fast jedes Autoren. Wirklich geglaubt habe ich daran nie. (Und im Umkehrschluss werde ich vielleicht sogar noch dafür sorgen, dass meine jugendlichen Tagebücher mich definitiv NICHT überleben.)
Was nichts daran ändert, dass ich wahnsinnig gerne sehen würde, wie unsere Epoche rückblickend gesehen und bewertet wird. In die Zukunft zu reisen, wäre für mich nicht so sehr deswegen interessant, um die Zukunft zu erleben, sondern um den zukünftigen Blick auf die Vergangenheit zu sehen. Ist das verrückt?
Oh, und dankeschön, ich hatte auch viel Spaß, das zu gestalten. Vor allem mag ich Text in Spalten, das funktioniert aber auch nur, weil ich inzwischen recht gut darin bin, etwa gleich lange Absätze zu schreiben. 😅
Hm, ja. Ein gelungener Artikel. Unerwarteter Weise regt mich das doch sehr zum Nachdenken an, aber ich kann das irgendwie nur schwer in Worte fassen.
Archäologie, also das stöbern in den Schichten der Geschichte, es hat ja schon auch etwas philosophisches und wie ich finde melancholisches an sich. (Aber das ist auch etwas wo meine Gedanken gerne hinwandern…).
Dieses ganze Spektakel vom Werden und Vergehen, die Kette der Überlieferung, Versunkenes, Verlorenes, Wiedergefundenes. Viele kleine Stücke von menschlicher Geschichte. und man versucht das alles zusammen zu setzten. Das Heute mit dem Früher in Verbindung zu bringen. Und ist auch selbst ein lebendiger Teil davon, ein aus eben solchen Teilen, bunt zusammengewürfelter.
Und doch. Der Kern des Menschseins, ich denke da hat sich ‚über die Jahre‘ nicht gar so viel geändert. Also die Sorgen, Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte und Ängste finden ja wieder und wieder ihren Ausdruck in der jeweiligen Zeit. Oder kann man auch Kultur dazu sagen?
Was mich gedankenakrobatisch auch sehr fasziniert und umtreibt sind so Dinge, wo wie du schreibst die Beweiskette unterbrochen wurde, wie Nebra oder der Diskos von Phaistos zum Beispiel. Ich kann da oft ganze Welten drum herum bauen. Existiert, oder eben auch nicht, dann alles nur in meinem Kopf.
Ja, was wird bleiben? Das klingt meinentwegen etwas seltsam aber ich finde es irgendwie ‚beruhigend‘, dass von meiner individuellen Existenz dereinst nichts wirklich greifbares übrig bleiben wird. (Ich mag solche Universen, wo man sich auch mal ganz unbemerkt, so mir nichts dir nichts aus dem Staub machen kann).😁
So, was noch? Bin ich der einzige der meint, das Wort ‚Tathergang‘ sieht, wie soll ich sagen, seltsam aus.🤔 Nur das Wort jetzt meine ich, nicht die Bedeutung.
Und ja. Das Pfostenloch. Tatsächlich vielsagend…
Und gut.
Tja, wie gesagt, mich beschäftigen diese Überlegungen schon seit Jahren. Wenn ich im Archäologiestudium eines gelernt habe, dann, wie vergänglich vieles ist. Und ja, in gewisser Weise ist es tröstlich, dass im großen Kontext die guten Dinge und die Fehler letzten Endes gleich unwichtig sind. Auf der anderen Seite ist das wohl auch der Grund dafür, warum sich Geschichte schließlich immer wiederholt. Wir als Menschheit sind dazu verdammt, zu vergessen.
(Ja, die Archäologen lieben ihre Pfostenlöcher. Ich erinnere mich noch, dass wir Studenten da häufig etwas ratlos daneben standen und mit den Schultern zuckten. Keramikfunde waren definitiv aufregender.)