„We protect and feed you, and you protect and feed us.“
Eine Vampirin auf der Suche nach ihrer Identität
Sie wacht in einer Höhle auf, schwer verletzt und blind. Sie weiß nicht, wer sie ist oder was ihr passiert ist, aber sie hat Hunger. So groß, dass sie jedes Tier erlegt, das ihren Weg kreuzt, und nach und nach erholt sich ihr Körper, ihr Augenlicht kehrt zurück. In der Nähe findet sie die verbrannten Ruinen einer kleinen Gemeinschaft, vielleicht hat sie dort gelebt, doch die Erinnerung bleibt verschollen. Auf einer Landstraße gabelt sie der junge Wright auf, der ihr kurzerhand den Namen Renee gibt. Und da erinnert sie sich: Sie braucht Blut zum Leben. Wright scheint es zu gefallen, wenn sie von ihm trinkt, und so finden sie ein Arrangement. Doch wer oder was ist sie?
Eine einfallsreiche Neuinterpretation des Genres
Als großer Vampir-Fan bin ich immer auf der Suche nach Geschichten, die sich von den üblichen Stereotypen lösen und dem Genre neue Impulse geben. Was genau mich an Octavia E. Butlers „Fledgling“ reizte, weiß ich nicht mehr, doch das Buch landete irgendwann auf meinem Lesestapel, wo es über ein Jahr lang liegenblieb, während ich mich erst mal von diversen Dystopien herunterziehen ließ. Als ich endlich mit der Lektüre begann, war ich von der ersten Seite an gefesselt.
(Hier steht eine freundliche Spoiler-Warnung.)
Nun könnte man argumentieren, dass „Fledgling“ eigentlich nicht von Vampiren handelt. Shori, wie unsere Heldin tatsächlich heißt, ist eine Ina. Die Ina sind eine eigene Spezies, die sich neben den Menschen entwickelt, aber schon immer mit ihnen zusammengelebt hat. Ina werden außerdem geboren und nicht gemacht, kein Mensch kann in einen Ina verwandelt werden. Doch ihre Existenz hat viele der Vampirmythen befeuert, angefangen beim Blutdurst über ihre extreme Langlebigkeit, die sie unsterblich erscheinen lässt, bis zu ihrem nächtlichen Lebensrhythmus. Der Roman ist eine Variation des Themas und in der Hinsicht ausgesprochen modern.
Der wichtigste Unterschied zwischen den Ina und klassischen Vampiren ist die Art des Zusammenlebens mit den Menschen. Die Ina töten keine Menschen, um sich zu ernähren, sondern gehen eine Form der Symbiose mit ihnen ein, von der beide Seiten profitieren. Jeder Ina hat bis zu zehn „Symbionts“, die ihm genug Blut liefern, im Gegenzug hält ihr Speichel diese Menschen gesund und erhöht ihre Lebenserwartung. Eine gewisse polyamouröse Komponente ist übrigens nicht von der Hand zu weisen, wird von Butler aber niemals zum Mittelpunkt der Geschichte gemacht. Interessanterweise ist es auch der am wenigsten kontroverse Aspekt der Ina-Lebensweise.
Trotz vieler neuer Ideen setzt „Fledgling“ dennoch auf einen bewährten Erzähler: den Neuling. Da Ina nicht verwandelt werden, behilft sich Butler damit, dass Shori durch ihre Kopfverletzung an Amnesie leidet und deshalb alles neu lernen muss. So wird sie ganz selbstverständlich zur Identifikationsfigur für den Leser, der die Welt der Ina zusammen mit ihr erforscht. Das funktioniert mal besser und mal schlechter, ich bin grundsätzlich kein Fan der Ich-Perspektive, weil uns die Gedankenwelt der anderen Figuren dadurch vorenthalten wird. Gerade hier wäre es vielleicht ganz spannend gewesen, was Wright denkt (im Gegensatz zu dem, was er offen sagt).
Einen großen Part des Romans macht das „Council of Judgement“ aus, bei dem die Ermordung von Shoris Familie durch andere Ina verhandelt wird. Das ist eine clevere Methode, eines der Hauptthemen des Buches durchzudeklinieren, denn hier treffen zwei Ansichten aufeinander: dass die Menschen nur „Nutzvieh“ sind versus gleichberechtigte Lebenspartner. Shori ist nicht irgendeine Ina, sondern Ergebnis eines Experiments mit menschlicher DNS, das sie nahezu immun gegenüber Sonnenlicht macht. In den Augen einiger Ina ist sie ein Mensch und deshalb minderwertig.
(Dass Butler hier eine Aussage zu Rassismus machen möchte, ist mir bewusst, Shori ist nicht umsonst schwarz, während alle anderen Ina ausgesprochen weiß sind. Da ich aus meiner Lebensrealität heraus jedoch wenig dazu sagen kann, klammere ich das lieber aus. Es ist eine gelungene Metapher, die deutlich macht, wie absurd solche rassischen Abgrenzungen sind.)
Im Grunde ist „Fledgling“ für mich ein 5-Bananen-Kandidat, weil ich die Geschichte regelrecht verschlungen habe und viel Spaß an diesem alternativen Vampirmythos hatte. Tatsächlich ist das aber auch mein größtes Problem damit, denn wie ich schon schrieb, konzentriert sich das Buch im hinteren Teil stark auf das Council und ist dann schlagartig zu Ende. Shori schmiedet viele Pläne, doch wir erleben nicht einen davon. Der Schluss fühlte sich ein bisschen so an, als würde man aus der Bar geschmissen. Octavia E. Butler starb kurz nach Veröffentlichung des Romans, es ist also denkbar, dass sie eigentlich noch mehr von Shori erzählen wollte. So bleibt es leider eine alleinstehende Story mit spannenden Ansätzen.
4 ½ von 5 Bananen mit Erdbeer-DNS.
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