„Das Einsatzgebiet Konstantinopel hat gezeigt, dass wir mithilfe des Chronotrons umfangreiche Operationen durchführen können, die ohne die immensen Kosten und das Blutvergießen konventioneller Kriegsführung die Geschichte zu unserem Vorteil umgestalten können.“
Magie als Machtvorteil
Frustriert von ihrem vorgesetzten Professor, nutzt die unterbezahlte Linguistin Melisande Stokes die Gelegenheit und nimmt ein Jobangebot von Tristan Lyons an. Der arbeitet für eine Geheimorganisation des Militärs namens D.O.D.O., für die sie alte Manuskripte und Schriften übersetzen soll, die beweisen, dass Magie bis zum Jahr 1851 tatsächlich existierte. Dabei finden sie auch heraus, welches Ereignis für das Aussterben verantwortlich war, und konstruieren einen Apparat (die ODEK), in dessen Inneren die Magie wieder funktioniert.
Schließlich erfährt Melisande den wahren Zweck des teuren Unternehmens: D.O.D.O. steht für Department of Diachronic Operations und will durch gezielte Veränderungen der Vergangenheit die Gegenwart zu Gunsten der USA verändern. Während die Organisation wächst, begehen sie jedoch einen folgenschweren Fehler: Sie holen eine der mächtigsten Hexen des ausgehenden Mittelalters in ihre Gegenwart. Und die will ihnen keineswegs helfen, sondern verhindern, dass die Magie jemals verschwindet.
Ein nuancierter Blick auf Magie und die Folgen
Um eines vorwegzunehmen: „Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.“ von Neal Stephenson und Nicole Galland ist genial. Es ist das seit sehr, sehr, wirklich sehr langer Zeit erste Buch, bei dem ich mich Abends zwingen musste, es beiseite zu legen, um noch genug Schlaf zu bekommen. Was mich vor allem deshalb überrascht hat, weil ich eigentlich kein Fan von „Briefromanen“ bin. Doch der Mix aus Tagebucheinträgen, Chats, Einsatzberichten, bürokratischen Richtlinien und Mitarbeiterinformationen fängt die verschiedenen Facetten der Geschichte besser ein als ein klassischer Erzähler das je könnte.
„D.O.D.O.“ ist ganz klar ein vom Plot vorangetriebener Roman, bei dem die persönlichen Befindlichkeiten der Protagonisten in den Hintergrund treten. (Eine Eigenart Stephensons, wie ich mir habe sagen lassen.) Immerhin: Wer zur Abwechslung mal einen phantastischen Roman ohne kitschige Liebesgeschichte lesen möchte, wird hier fündig. Zwar funkt es zwischen den beiden Hauptfiguren von Anfang an heftig (was auch spätere Mitarbeiter immer wieder kommentieren), doch das ist eher ein Running Gag am Rande.
Alle, die nun Lust bekommen haben, das Buch selbst zu lesen, sollten an dieser Stelle meine Rezension abbrechen. Um nämlich adäquat über die Prämisse und die moralisch-ethischen Folgen sprechen zu können, muss ich im Folgenden auf einige Aspekte der Handlung sehr explizit eingehen. Ich möchte also ausnahmsweise ganz entschieden vor Spoilern warnen.
„Sie möchte unsere gesamte historische Zeitleiste so umgestalten, dass Wissenschaft und Technik nie aus dem späten Mittelalter herausfinden und die Magie immer noch blüht.“
Wieso ist die Magie verschwunden?
Und was hat Schrödingers Katze damit zu tun?
Melisande findet anhand alter Schriften heraus, dass die Magie zur Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst immer mehr nachließ, um schließlich schlagartig am 28. Juli 1851 zu verschwinden. Damit eröffnet „D.O.D.O.“ eine faszinierende Welt, in der Magie und Wissenschaft/Technik einen unvereinbaren Kontrast bilden. Magie, so wird uns erklärt, ist ein Zustand des „Womöglich“ oder „Vielleicht“, während sich Wissenschaft durch Eindeutigkeit auszeichnet. Indem Johann Berkowski im Juli 1851 erstmals eine totale Sonnenfinsternis als Daguerreotypie festhielt, verlieh er dem Ereignis Eindeutigkeit. Es blieb kein Raum mehr für Spekulation, aus der die Magie ihre Macht bezog.
Was uns zu Schrödingers Katze bringt, die dieses Prinzip physikalisch wie auch philosophisch umschreibt. Die Katze, die mit einem potenziell tödlichen Gegenstand in der Box eingeschlossen ist, kann – solange wir nicht nachsehen – sowohl tot als auch lebendig sein. Damit entspricht das Experiment dem eben beschriebenen Zustand des „Vielleicht“. Die ODEK, die die Geheimorganisation daraufhin konstruiert, ist im Grunde nichts anderes als eine solche von der Außenwelt abgeschirmte Box. Und ja, der Roman ist sich der Ironie mehr als bewusst, dass ausgerechnet die Technik, die Magie vernichtet hat, dafür nötig ist, um sie wieder zu ermöglichen.
Es ist wichtig, dass man diesen Gegensatz versteht, um den späteren Konflikt überhaupt würdigen zu können. Denn im Grunde sind die „diachronen Operationen“, die zum Machterhalt bzw. -ausbau der USA dienen, nur harmloses Geplänkel. (Interessanterweise wird die genaue Mechanik dahinter, warum aus dem „Trapezoid“ plötzlich das „Pentagon“ wird, nie erklärt. Im Grunde wird „unsere“ Gegenwart im Laufe des Romans überhaupt erst erschaffen.) Während die Organisation wächst und die Kreativität von der Bürokratie erstickt wird, verlieren die einzelnen Mitarbeiter zunehmend den Überblick. Das erkennt Gráinne, eine Hexe der Renaissance, und nutzt es zu ihrem Vorteil. Politische Macht ist ihr gleich und die Vorteile der Wissenschaft hat sie nie kennengelernt, sie kennt nur ein Ziel: die Magie erhalten.
„Ihr wollt Gráinne aufhalten, nicht weil sie versucht, etwas Böses zu tun, sondern weil sie versucht, euch Dinge fremd zu machen. Und das ist unbequem für eure Auffassung davon, wie das Leben zu sein hat, mit Walmarts und Baumwollunterwäsche und Dingen, für die ihr diese sogenannten Seltenen Erden braucht. Ihr möchtet diese Dinge immer gehabt haben.“
Wollte man es genau nehmen, beginnt die eigentliche Geschichte erst, wenn der Roman endet. (Übrigens mein einziger Grund für Punktabzug, weil ich das ziemlich unbefriedigend fand. Andererseits steht die Möglichkeit einer Fortsetzung damit real im Raum.) Nun stehen sich zwei Organisationen gegenüber: D.O.D.O. unter der Kontrolle von Gráinne, die die Entwicklung der modernen Wissenschaft verhindern will, und eine Gruppe Abtrünniger, die den Status Quo erhalten will. Das Spannende daran ist, dass es „die Guten“ oder „die Bösen“ in dem Spiel nicht gibt. Man kann zu Gráinne stehen, wie man will, aber sie macht all das ja nicht aus Bösartigkeit, sondern um die Welt zu erhalten, die sie kennt. Und wer sagt, dass es eine schlechtere Welt wäre?
Es mutet fast absurd an, über einen 860 Seiten starken Roman zu sagen, dass er nur an der Oberfläche kratzt. Der Vollständigkeit halber sei aber bemerkt, dass sich die Handlung recht schnell auf das Thema Zeitreisen einschießt. Dass die Magie weitaus mehr kann, wird zwar erwähnt und ist für die Hexen, die immer nur das eine machen dürfen, auch ein Quell ständiger Frustration, doch es spielt im Rahmen der Erzählung eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wird die Logik von Zeitreisen und in dem Zusammenhang auch die Vielweltentheorie in der Breite erforscht. Auch das ein Grund, warum ich persönlich „D.O.D.O.“ so mochte. Die Vorstellung, dass unendliche viele Stränge der Vergangenheit diese eine Gegenwart ergeben, in der wir leben, ist faszinierend und beängstigend zugleich.
Ein Roman, der sich Genre-Zuordnungen entzieht
Mir ist klar, dass sich nicht jeder in dieser Art von Erzählung wiederfinden wird, da sie weder klassische Fantasy-Literatur noch harte Science-Fiction ist. Tatsächlich ist „Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.“ in erster Linie ein humoristischer Blick auf moderne Unternehmensführung mit ihrem Drang zu Regulierung und Optimierung. (Ein Highlight ist die Richtlinie zur Etablierung neuer Akronyme, die von den Mitarbeitern in völliger Missachtung des Inhalts prompt als RUELPS abgekürzt wird.) Gleichzeitig erforscht der Roman, wie die Vergangenheit die Gegenwart auf zuweilen unerwartete Weise beeinflusst, während man nebenbei einen kleinen Einblick in die Quantenmechanik erhält. In dieser Form ist er damit sicherlich einmalig und ein echtes Lesevergnügen.
4 ½ von 5 fotografisch festgehaltenen Bananen.
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