An diesem Vorweihnachtswochenende möchte ich meine neue Rubrik „Literatur am Samstag“ mit einem Kleinod aus der Schublade eröffnen: Arwels erstes Abenteuer. Die genauen Umstände liegen im Dunkel, das Ganze muss jedoch irgendwann um das Jahr 2000 herum als jährliches Weihnachtsmärchen für meine Eltern entstanden sein. Die vorliegende Fassung ist eine Überarbeitung, die ich vor vier Jahren im Rahmen der Romanveröffentlichung erstellt habe. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!
Die Rentiere sind neuerdings immer sehr schnell aus der Puste, dachte der Weihnachtsmann so bei sich. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.
Es herrschte Nacht über der amerikanischen Kleinstadt, die er ansteuerte. Die Dunkelheit wurde von der übertriebenen Weihnachtsbeleuchtung konkurrierender Nachbarn erhellt, so dass der Weihnachtsmann fürchten musste, gesehen zu werden. Kleine Schneeflocken rieselten zu Boden, und die Luft war schneidend kalt. Doch was störte es ihn? In seiner leuchtend roten Arbeitskleidung war er bestens gegen die Kälte geschützt.
Der Weihnachtsmann lenkte seinen Schlitten in einem eleganten Bogen auf das erste Haus zu und sprang die letzten paar Zentimeter aufs Dach, weil mal wieder kein Platz zum Landen war. Nach einem kurzen Blick auf den Zettel in seiner linken Hosentasche holte er einen Stapel Geschenke aus seinem Sack und warf sie den Schornstein hinab, bevor er selbst hinterher kletterte. Mit der Geschicklichkeit jahrelanger Routine vollführte er einige Drehbewegungen, die normalerweise dafür sorgten, dass er elegant nach unten rutschte. Normalerweise, denn diesmal geschah … nichts. Der Weihnachtsmann steckte fest.
„Die bauen echt von Jahr zu Jahr engere Schornsteine“, grummelte er und versuchte, sich mit einigen weiteren Drehbewegungen zu befreien – erfolglos.
„Mum!“ schrie plötzlich ein kleines Kind von der gegenüberliegenden Straßenseite. „Der Weihnachtsmann steckt im Schornstein fest!“
„Scheiße“, fluchte der und versuchte nun umso hektischer, der Falle zu entkommen. Dann gab er auf und kramte stattdessen etwas verkrampft in der Jackentasche nach seinem Handy. „Arwel, um Himmels Willen, ich steck im Schornstein fest“, berichtete er der Oberelfe und bestellte Beistand bei ihr. „Schnellstmöglich“, setzte er mit Blick auf das kleine Kind von gegenüber hinzu.
Mittlerweile war seine „Mum!“ gekommen und rief nun ihrerseits nach einem William, der vermutlich ihr Mann war und gleich die Kamera mitbringen solle. Dann überlegte sie es sich und rief, er solle das Fernsehen anrufen.
„Scheiße“, wiederholte der Weihnachtsmann.
„Die ganze Welt bangt um das Weihnachtsfest. Nachdem der Weihnachtsmann vor wenigen Minuten aus einem Schornstein befreit werden musste, in dem er steckengeblieben war, ist er nun mit seinem Rundflug um die Erde im Verzug und muss sich ernsthaft die Frage stellen, ob er für den Job nicht langsam zu dick wird. Bei mir im Studio ist der Ernährungsexperte Professor Doktor Black …“
„Ich hab dir immer gesagt, die vielen Schokokekse sind nicht gut für dich“, schimpfte Arwel mit dem Weihnachtsmann, während einige andere Elfen ihn aus dem Schornstein zogen – beobachtet von gut einem Dutzend Fernsehkameras.
Arwel war eine resolute kleine Elfe, die im vergangenen Jahr mit der Reform der Arbeitszeiten dermaßen Eindruck gemacht hatte, dass der Weihnachtsmann sie kurzerhand zur Oberelfe befördert hatte. Man mochte ihr gar nicht ansehen, was in ihr steckte, denn sie war wie gesagt ziemlich zierlich, sogar für eine Elfe, und dazu schmückten ihren Kopf blonde Korkenzieherlocken, mit denen man sie eher für einen Engel als eine Elfe hielte.
„Ach, leck mich doch“, entgegnete der Weihnachtsmann frustriert. „Jeder hat seine Laster.“
„Aber nicht jeder muss durch Schornsteine rutschten, um Milliarden hoffnungsvollen Kindern Geschenke zu bringen“, erklärte Arwel vorwurfsvoll. „Übrigens bleibt dafür nicht mehr viel Zeit.“
„Die Zitronendiät wirkt Wunder“, mischte sich eine andere Elfe ein, die am rechten Arm des Weihnachtsmannes hing. „Kann ich echt empfehlen …“
„Der Weihnachtsmann hat natürlich mehrere Möglichkeiten. Er kann eine der vielen Diäten machen, aber damit ist das Problem nicht aus der Welt. Meistens nimmt man nach einer Radikal-Diät doppelt so viel wieder zu. Ich denke, dauerhaft kann er seine Gewichtsprobleme nur mit ausgewogener Ernährung und einem intensiven Fitnessprogramm in den Griff kriegen.“
„Ich will Ihnen wirklich keine Angst machen“, begann der Hausarzt des Weihnachtsmannes zaghaft, „aber bei diesem Gewicht besteht durchaus die Gefahr eines Herzinfarkts.“
„Siehst du, du Idiot?“ schrie Arwel wütend und stieß dem Weihnachtsmann den Ellenbogen in die Seite. „Was machen wir, wenn du stirbst?“
„Wäre nicht die Kartoffeldiät was für ihn?“ fragte eine Elfe, die mit einem halben Dutzend weiterer besorgt an der Tür stand.
Der Arzt schüttelte mit nachdenklichem Gesicht den Kopf. „Nein, ich denke, auf Dauer hilft hier nur eine komplette Umstellung der Lebensgewohnheiten.“
„Viel Obst und Gemüse“, rief eine Elfe.
„Jeden Morgen joggen“, meinte eine andere.
„Und keine Zigaretten mehr.“ Arwel warf dem Weihnachtsmann einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Irgendwie ahne ich, dass dann alles nur noch halb so viel Spaß macht“, murmelte der Weihnachtsmann und sollte recht behalten. Diesen Sommer war nichts mit Herumhängen, Schokoplätzchen mampfen und Zigaretten paffen. Die Elfen sorgten dafür, dass er jeden Morgen zwei Stunden durch den Schnee joggte, zum Frühstück Müsli und über den Tag verteilt mindestens drei Äpfel aß. Und natürlich, dass er nicht vergaß, sein Nikotin-Pflaster aufzukleben. Er kaute übrigens auch zwei Packungen Kaugummi am Tag, aber das sahen die Elfen ihm nach.
„Alle sind gespannt, wie es dem Weihnachtsmann geht. Wie jedes Jahr ist er nach Weihnachten in der Versenkung verschwunden, um Urlaub zu machen, doch dieses Mal wird er sich wahrscheinlich weniger dem Urlaub als vielmehr dem Abnehmen gewidmet haben. Jedenfalls hoffen das alle. Hier noch einmal die spektakulären Bilder vom letzten Jahr …“
„Nicht so schnell, Jungs“, rief der Weihnachtsmann seinen Rentieren zu, die eine besorgniserregende Geschwindigkeit erreicht hatten. Beinahe wurde ihm etwas mulmig im Magen zumute.
Während er am sternenklaren Himmel entlang bretterte, schlabberten die Sachen des Weihnachtsmannes um seinen abgemagerten Körper. Arwel hatte es am Ende geschafft, ihm eine richtig athletische Figur zu verpassen, dafür hatte er die letzten Monate aber auch von so ziemlich allem enthaltsam gelebt. Niemand hätte allerdings daran gedacht, auch seine Arbeitskleidung entsprechend in Form zu bringen. Er kam sich vor, als führe er in seinem Nachthemd spazieren.
Die Rentiere verlangsamten ihren Flug und brachten sich wenige Zentimeter über einem Hausdach in Position. Der Weihnachtsmann tätschelte den Kopf des Tieres, das ihm am nächsten stand, und hüpfte dann angenehm leichtfüßig aus dem Schlitten. Ein kurzer Blick auf seinen Zettel, dann hatte er auch schon die richtigen Pakete zur Hand und warf sie den wartenden Schornstein hinab. Mit einem routinierten Satz sprang der Weihnachtsmann hinterher und wollte gerade seine berühmte Drehung vollziehen, als er auch schon mit einem harten Plumps landete.
„Scheiße, verdammte!“ fluchte er und rieb sich sein Hinterteil, das vermutlich ein einziger blauer Fleck wurde. Dann erst bemerkte er den kleinen Jungen, der mit großen Augen und einem Teddy unterm Arm vor ihm stand. „Hallo, Kleiner“, sagte er. „Bist wohl ein ganz Neugieriger, hm?“
„Mama!“ fiel dem dazu nicht Besseres ein. Irgendwie kam dem Weihnachtsmann das bekannt vor. „Hier ist ein Einbrecher im Weihnachtsmannkostüm!“
Der Weihnachtsmann sah zu, dass er zur Tür raus kam und pfiff seine Rentiere zu sich. Zwar beeilten die sich wirklich, trotzdem gelang es „Mama!“, einen Schnappschuss von ihm zu machen und bei Instagram zu posten.
„Ein mysteriöser Einbrecher hält die Welt in Atem. Verkleidet als Weihnachtsmann, ist er in dieser Nacht bereits in gut zwei Dutzend Häuser eingebrochen. Die Polizei tappt im Dunkeln, denn so plötzlich er auftaucht, so schnell ist er auch wieder verschwunden. Verschließen Sie alle Türen und Fenster …“
„ARWEL!“ brüllte der Weihnachtsmann, als er sein Haus betrat. „Du hinterhältige kleine Elfe, ich hätte nie auf dich hören sollen!“
Die Angesprochene schwebte keineswegs beeindruckt die Treppe hinab. Sie hatte die Nachrichten schon im Fernsehen vernommen und konnte sich ein schadenfrohes Grinsen dann doch nicht verkneifen.
„Ehrlich, dieser Job macht keinen Spaß mehr“, schimpfte der Weihnachtsmann weiter vor sich hin. „Ich kündige! Soll doch der Osterhase Doppelschicht schieben …“
„Ach komm schon“, munterte Arwel ihn auf und klopfte ihm auf die Schulter. „So sind die Menschen eben. Sie kommen mit Veränderungen nicht zurecht. Wenn sie seit Generationen einen dicken Weihnachtsmann kennen, dann sind sie misstrauisch, wenn plötzlich ein dünner daherkommt.“
„Ich geb’s auf.“ Er schüttelte den rotbemützten Kopf. „Was soll ich tun?“
„Zunehmen“, bestimmte Arwel. „Aber diesmal messen wir vorher die Schornsteine aus …“
„Wie wär’s mit der Schokoladendiät?“ schlug eine vorwitzige kleine Elfe vor, die sich beim Weihnachtsmann beliebt machen wollte.
„Oder der Pommesdiät?“ rief eine andere.
„Ich geh jetzt erst mal zu McDonalds“, meinte der Weihnachtsmann nur.
Und die Moral von der Geschicht? Höre nie auf Elfen nicht!
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten und immer schön ein Kissen in den Kamin legen …
Eine schöne Geschichte in der schon dein Potenzial durchscheint. Du hättest sie sogar als Rückblende für deinen Roman, oder könntest sie noch für einen kommenden Roman, falls der Weihnachtsmann nochmal mitspielt, verwenden.
Ursprünglich wollte ich die Story sogar quasi als Bonus an den Roman anhängen. Mal sehen, sollte ich irgendwann eine Neuausgabe machen, hole ich das vielleicht nach.
Hehehe, so süß.
Obwohl ich ja sagen muss, Abnehmen hat noch niemandem geschadet.
XD
Tja, schon meine Weihnachtsmärchen waren nie politisch korrekt. Ich erinnere mich da auch dunkel an eine Geschichte, in der ein Gelf singt (weil sie das bei Disney auch immer so machen), und daraufhin ein Eichhörnchen tot vom Baum kippt.