Thor

„Deine Vorfahren nannten es Zauberei. Du nennst es Wissenschaft. Ich komme von einem Ort, an dem das ein und dasselbe ist.“ Comicverfilmungen sind eine Sache für sich, die einen verstehen den ganzen Hype darum nicht und finden sie lächerlich, die anderen können nicht genug davon kriegen. Nun ist es ausgerechnet eine Figur aus der nordischen Mythologie, der der Mittelweg gelingt.

Im Grunde genommen sind die meisten modernen Heldensagen schon irgendwie ein bisschen lächerlich. Es sind immer die ganz gewöhnlichen, fast unscheinbaren Jungs, die durch einen dummen Unfall zu Superkräften kommen und dann erst mal die Welt retten, bevor sie am Ende das Mädchen kriegen, nach dem sie sich schon seit dem Kindergarten verzehren. Und in der Fortsetzung muss er sich dann mit seinen eigenen dunklen Seiten auseinandersetzen. Dass der Werdegang der meisten Comichelden so ähnlich verläuft, hat allerdings nichts mit Einfallslosigkeit der Autoren zu tun, es ist dies nur die ultimative Geschichte vom Erwachsenwerden, die erzählt wird. Zwar überhöht, doch es geht immer um elementare Dinge. Um Liebe. Um Macht. Um Selbsterkenntnis.

Obwohl „Thor“ vom anderen Ende aufgerollt wird, ist seine Geschichte nicht viel anders. Als Erstgeborener von Allvater Odin strebt er von Kindesbeinen an den Thron von Asgard an. Doch am Tag seiner Krönung gelingt es alten Feinden, den Eisriesen von Jötunheim, unbemerkt in Asgard einzudringen. Besessen davon, diese Unverschämtheit zu rächen, brechen Thor und seine engsten Freunde unüberlegt nach Jötunheim auf und zetteln einen Krieg an. Odin ist von seinem Sohn enttäuscht und verbannt ihn, seiner Kräfte beraubt, auf die Erde, wo er nicht nur lernen muss, auf einer weitaus kleineren Skala zu agieren, sondern mit Hilfe der Wissenschaftlerin Jane erkennt, was es heißt, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Das ist indes auch dringend nötig, denn in Asgard hat inzwischen sein hinterlistiger Bruder Loki den Thron bestiegen und plant, die Eisriesen Odin töten zu lassen.

Meine Haltung zu Comicverfilmungen hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert, was zweifellos auch damit zusammenhängt, dass die Erzählweise solcher Geschichten komplexer geworden ist. Gab es in meiner Kindheit nur den leicht behäbigen „Superman“ und einen lächerlich albernen „Batman“, hat sich mit dem Reboot des „Batman“-Franchises praktisch alles geändert. Es gehört heute zum guten Ton, Superhelden nicht mehr als Menschen ohne Fehl und Tadel zu porträtieren, im Gegenteil, ihre Abgründe sind oft tiefer als die der vermeintlichen Bösewichter, und die größte Herausforderung stellt die Beherrschung der eigenen Kräfte dar. Dass dabei zuweilen trotzdem bunte, aufregende und witzige Filme entstehen, ist das Verdienst ambitionierter Regisseure, die die Balance zwischen Psychostudie und Popcornkino halten. Reinfälle wie das visuell überwältigende, aber inhaltlich hohle „Sucker Punch“ oder die lieblosen Fortsetzungen des ersten „X-Men“-Films sind eher die Ausnahme. Für das normale Publikum bleiben Comicverfilmungen trotzdem ein Buch mit sieben Siegeln, und das liegt wohl am ehesten daran, dass diese Art von Geschichten eine gewisse geistige Offenheit verlangt. Man muss bereit sein, ein paar verrückte Sachen als normal hinzunehmen, weil man sonst gar nicht bis zur eigentlichen Handlung vorstößt.

Dass „Thor“ trotzdem ein etwas anderer Comicfilm ist und nachweislich auch Leute anspricht, die mit dem Genre sonst gar nichts anfangen können, ist zweifellos Regisseur Kenneth Brannagh zu verdanken. Seinen Namen ist man gewohnt, im Zusammenhang mit Shakespearschen Epen zu lesen, und genau wie ein solches hat er „Thor“ auch inszeniert. Mit viel Drama, aber auch mit einem gewissen Augenzwinkern und pointierten Dialogen. Im Grunde ist die Comicverfilmung sowieso das Genre, das sich am allerwenigsten ernst nehmen muss, und genau das beherzigt „Thor“, die Menschen dort reagieren genauso ungläubig und belustigt wie der Zuschauer, wenn der Titelheld die Kaffeetasse zu Boden schleudert, weil’s ihm so toll schmeckt. Aber er nimmt es ihm eben auch ab, dass er darunter leidet, von seinem Vater verstoßen worden zu sein. Die Szene, die den Film vielleicht am allerbesten charakterisiert, ist jene, in der Thor versucht, der rationalen Wissenschaftlerin Jane zu erklären, wie es kommt, dass er, ein Gott, auf der Erde gelandet ist. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Magie verläuft genau dort, wo unser Wissen seine Grenzen erreicht.

Abgesehen davon ist „Thor“ eine Effektschlacht ohnegleichen, allein die Kostüme der Darsteller müssten eigentlich separat in der Besetzungsliste aufgeführt werden. Und unter uns, so spaßig die Szenen sind, die auf der Erde spielen, die visuelle Wucht von Asgard ist einfach atemberaubend. Dass die Schauspieler in diesem gewaltigen Set nicht verloren gehen, ist nur dem extrem gutem Casting zu verdanken. So ungewöhnlich es scheint, einem nahezu unbekannten Gesicht wie Chris Hemsworth (er war Papa Kirk im letzten „Star Trek“-Film) die Hauptrolle in einem Blockbuster anzuvertrauen, diese Zuversicht hat sich gelohnt, denn er hat eine unglaubliche Präsenz und zudem die nötige jungenhafte Verschlagenheit, um den Donnergott zu verkörpern. Der heimliche Star des Films ist allerdings der Brite Tom Hiddleston, der Thors undurchschaubaren Bruder Loki spielt. Ihm gelingt es, eine ganze Bandbreite von Emotionen zu vermitteln, von Wut und Trauer darüber, dass ihm seine wahre Identität verborgen wurde, bis zu diabolischer Hinterlist, mit der er sich auf den Thron von Asgard intrigiert. Zweifellos tut man gut daran, neben Hemsworth auch ihn für den kommenden „Avengers“-Film verpflichtet zu haben. Daneben stehen Größen wie Anthony Hopkins und Stellan Skarsgård, die mit ihrer gesetzteren Darstellung den Gegenpol liefern, wohingegen Natalie Portman leider völlig unterfordert bleibt. Und von Kat Dennings als zynische Praktikantin Darcy hätten wir wohl alle gern mehr gesehen.

Wer „Thor“ im Heimkino genießen möchte, sollte unbedingt zur Blu-Ray greifen, denn während die nur geringfügig günstigere DVD praktisch kein Bonusmaterial aufweist, gibt es auf der blauen Scheibe sehr interessante Featurettes, einen Ausblick auf „The Avengers“ und dazu noch elf geschnittene Szenen, die vor allem die Handlung um Loki vertiefen und der Beziehung zwischen ihm und Thor sogar einen etwas anderen Blickwinkel verleihen. Eine Fortsetzung ist ebenfalls schon geplant, für die die Dreharbeiten im kommenden Jahr beginnen sollen. Es bleibt zu hoffen, dass der Wechsel des Regisseurs dem eigenwilligen Tonfall dieses Heldenpos nicht schadet.