Elementary, Dr. Watson | Die Neuerfindung des Krimi-Genres

Es ist eine liebgewonnene Tradition zwischen meinem Vater und mir, dass er regelmäßig versucht, mich mit Namen wie zum Beispiel Raymond Chandler für Krimis zu begeistern. Und ebenso zuverlässig lehne ich dankend ab, denn ich mag keine Krimis. Ich lese sie nicht und ich seh sie mir auch nicht an. Dann kam „Sherlock“.

Ich kann nicht genau sagen, wo meine Abneigung gegen Krimis ihren Ursprung nimmt, genau genommen fand ich „Columbo“ als Kind immer total witzig, aber aus gänzlich anderen Gründen als dem Genre. Krimi, da denke ich zuallererst an den behäbigen „Tatort“, womit ich dem Genre sicherlich Unrecht tue. Fakt ist aber, mein Hirn windet sich in Qualen, wenn ich mir einen Krimi ansehen muss, denn es scheint davon nur zwei Arten zu geben. Entweder ist der Fall so simpel, dass ich ihn schon nach wenigen Minuten durchschaue und mich anschließend anderthalb Stunden über die Dummheit der Figuren aufrege. Oder aber der Fall ist so abstrus kompliziert verwinkelt, dass ihn vermutlich noch nicht mal der Drehbuchautor verstanden hat, und ich nach anderthalb Stunden frustriert bin, weil irgendwie alles total unlogisch ist.

Als ich mir 2010 die erste Folge der BBC-Produktion „Sherlock“ ansah, so tat ich dies also zweifellos nicht, weil ich mir sagte, oh wie fein, ein Krimi! Der einzige Grund, und das gestehe ich offen ein, war Steven Moffat. Vielleicht liegt es daran, dass ich selber schreibe, aber für mich sind bei Filmen und Serien häufig nicht die beteiligten Schauspieler ausschlaggebend, sondern die Story und/oder der Autor. Durch Moffat wurde aus „Doctor Who“ wieder eine Serie, die man Freunden bedenkenlos empfehlen kann, und so war ich neugierig, was er wohl aus einem Stoff wie Sherlock Holmes macht.

Zunächst einmal, jeder kennt Sherlock Holmes. Er ist eine der ganz wenigen literarischen Figuren, die so sehr Popkultur geworden sind, dass man nie eines der Bücher von Arthur Conan Doyle gelesen haben muss, um zu wissen, um wen es sich handelt. Für mich war Sherlock Holmes immer gleichbedeutend mit kruden Holodeck-Episoden bei „Star Trek“, und mein Wissen über die Figur basiert mehr oder weniger auf Datas Interpretation von ihr. Was gar nicht so seltsam ist, wie es scheint, wenn man so darüber nachdenkt. Aber auch da zeigte sich, durch die vielen Verfilmungen wurde über die Jahre unendlich viel Ballast angehäuft, auf den sich nun jeder Autor aufs Neue einlassen muss.

Steven Moffat und Co-Produzent Mark Gatiss haben so gesehen das einzig Sinnvolle getan: Sie haben die Figur von all ihren Klischees befreit. Die mit Sherlock Holmes identifizierten Gegenstände sind die Pfeife und der Deerstalker-Hut, beides durfte bisher in kaum einem Film fehlen. Auch Moffat und Gatiss nutzen diese bekannten Details, aber nicht in der üblichen Manier, und genau deshalb wirkt die Figur frisch und unverbraucht. Dabei ist es eher unbedeutend, dass die Geschichte in die Gegenwart verlagert wurde, denn Sherlock selbst verändert sich dadurch kaum. Mag er auch permanent SMS schreiben und über forensische Methoden bloggen, seine Arbeitsweise ist dieselbe wie in den Büchern, er beobachtet und folgert daraus. Also doch ein Krimi?

Ja und nein. Die Fälle, die dieser Sherlock zu lösen hat, sind teilweise ebenfalls haarsträubend konstruiert und erst nach mehrmaligem Ansehen verständlich. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Krimis kann man hier behaupten, dass es nicht die Fälle sind, um die es geht. Sie sind nur Mittel zum Zweck, denn bei Moffats Serie handelt es sich zunächst und an erster Stelle um eine Charakterstudie. Ob Sherlock Irene Adler in „A Scandal in Belgravia“ durchschaut, ist nicht wichtig, denn es geht um den fesselnden Tanz dieser beiden starken Persönlichkeiten, die nie zu viel von sich preisgeben wollen. Es ist letztendlich sogar unwichtig, wie genial Moriarty Sherlock in „The Reichenbach Fall“ ausspielt, denn am Ende läuft es auf zwei Szenen hinaus, in denen sie sich gegenüberstehen und erkennen, dass sie wie die zwei Seiten einer Münze sind. Das ist, wenn man so will, auch Krimi, ein Nervenkrimi, in dem es nicht mehr darum geht, wer der Mörder ist, sondern wie weit jeder der beiden zu gehen bereit ist.

Natürlich ist das auch eine Frage der Besetzung. Benedict Cumberbatch und Andrew Scott als Sherlock und Moriarty könnten einander vermutlich auch das Telefonbuch vortragen, und es wäre trotzdem hochspannend. Auch stimmt einfach die Chemie zwischen Cumberbatch und Martin Freeman, der den Militärarzt Watson spielt. Schon in der allerersten Folge wirken sie wie gute Freunde und mit der zweiten Staffel streiten sie sich wie ein altes Ehepaar, zeigen einander aber auch auf vielfältige Weise ihre Zuneigung. Vor allem Freeman darf in der zweiten Staffel beweisen, dass er als Schauspieler oftmals stark unterschätzt wird, so gelingt es in „The Reichenbach Fall“ beispielsweise, den Zuschauer durch eine Achterbahn der Gefühle zu schicken, ohne je den schmalen Grat zum Kitsch zu überschreiten. Und nebenbei ist „Sherlock“ auch noch eine visuell beeindruckende Produktion, die neue Techniken zur Unterstützung der Erzählung nutzt statt nur damit anzugeben.

Man könnte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass man in Amerika durch den internationalen Erfolg von „Sherlock“ jetzt auf die glorreiche Idee gekommen ist, auch so eine Serie zu produzieren, aber das ist schon wieder so absurd, dass sich sogar Moffat und Gatiss auf Twitter darüber lustig machen. Da hören wir es doch viel lieber, dass eine dritte Staffel bereits bestellt ist, für die alle Darsteller trotz inzwischen großer Erfolge auch im Kino unbedingt zurückkehren möchten.