Aus dem Nähkästchen | Das Schnittmuster-Dilemma

„Vielleicht sind meine Schultern zu schmal, keine Ahnung, aber da dieses Maß auch nirgends in der Maßtabelle abgefragt wird, weiß ich nicht, wie ich das anpassen könnte.“
(aus meinem Tagebuch)

Selbstgenähte Kleidung hat eine bessere Qualität als Fast Fashion, daran besteht gar kein Zweifel. Verwendet man jedoch kommerzielle Schnittmuster, erliegt man derselben Illusion wie bei Kleidern von der Stange. Denn auch Schnittmuster gehen vom „idealen“ Körper aus, und es ist völlig absurd, zu glauben, dass eine Tabelle mit drei Maßen irgendetwas daran ändert.

Mit jedem Schnittteil mehr wird das
Maßnehmen komplexer

Je weniger Schnittteile ein Kleidungsstück hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass es passt. Für einen einfachen Rock braucht ihr nur den Taillenumfang und die gewünschte Länge – selbst ein Anfänger kann hier nicht viel falsch machen. Bei einem T-Shirt wird es schon schwieriger: Was, wenn eure Schultern breiter oder schmaler sind als die des Models, mit dessen Proportionen das Schnittmuster konstruiert wurde? Keine Frage, mit genügend Erfahrung lässt sich das individuell anpassen. Aber da Schultermaße gewöhnlich in keiner Tabelle auftauchen, steht man erst mal dumm da.
Das Beispiel ist nicht ganz ohne Hintergedanken gewählt, denn dieser Tage versuchte ich mich an meinem ersten Cardigan. Basis war ein Schnittmuster aus dem Skandi-Buch, mit dem ich bislang sehr gute Erfahrungen gemacht hatte. Anhand der Maßtabelle entschied ich mich hier für die Größe 36, damit das Jäckchen etwas lockerer sitzt. Ob ich mit der 34 dieselben Probleme gehabt hätte, kann ich natürlich nicht sagen, aber eine Nummer größer sollte eigentlich nicht derart falsch ausfallen. Doch der Reihe nach …

Fehlendes Grundlagenwissen rächt sich

Der Cardigan besteht aus insgesamt acht Schnittteilen: zwei Vorderteilen, einem Rückteil, zwei Ärmeln nebst Ärmelbündchen sowie einer umlaufenden Blende. Die ersten Schritte bereiteten mir keine Probleme, Vorder- und Rückteil verbinden, Ärmel einpassen und Seitennähte schließen. Die Ärmelbündchen waren eine ordentliche Pfriemelei, weil ich die Ärmel dafür raffen musste, aber über das schöne Ergebnis habe ich mich anschließend umso mehr gefreut.
Die Blende, die gleichzeitig Knopfleiste ist, schien da nur noch eine Fußnote. Doch, oh mei, was für eine Katastrophe! Ich dachte ganz naiv, es läge nur am eingebügelten Vlies, dass die Blende im Nacken krass absteht, trennte alles wieder auf und entfernte das Vlies. Immerhin: Es wurde etwas besser. Offen kann ich den Cardigan tragen, doch die Knöpfe sparte ich mir, denn wenn ich das Vorderteil vorne schließe, steht die Blende wie ein Stehkragen ab.
Was ist passiert? Ich betrachte mich selbst immer noch als Nähanfänger. Mir fehlt das Grundlagenwissen, um Schnittmuster wirklich zu verstehen. Ich kann bestenfalls Vermutungen anstellen, und in dem Fall denke ich, dass die gesamte Schulterpartie von vornherein falsch proportioniert ist. Mit Ausbessern wäre es nicht getan, ich müsste den Schnitt eigentlich von Grund auf neu konstruieren. Was auch eine Erkenntnis ist.

Zurück auf die Schulbank

Ich will nicht so tun, als hätte ich nicht schon lange vor diesem Reinfall mit dem Gedanken gespielt, mich mehr mit Schnittkonstruktion und Maßschneiderei zu beschäftigen. Aber es traf sich tatsächlich ganz gut, dass ich noch während der Arbeit an dem Cardigan ein Buch geschenkt bekam, um Grundschnitte selbst zu erstellen. Nur um meinen Vergleich zu Fast Fashion noch einmal aufzugreifen: Das Nähbuch, aus dem ich den Cardigan habe, lässt einen die Größe anhand von vier Maßen ermitteln. Drei davon sind für ein Oberteil völlig nutzlos. Das Schneiderbuch lässt einen 16 Maße abnehmen und weitere 10 errechnen! Und ja, vier davon betreffen allein die Schultern.
Ich werde ohne Zweifel Zeit brauchen, mich da durchzukämpfen. Aber ich bin an einem Punkt angelangt, wo mich all die bunt aufgemachten Nähbücher nur noch frustrieren, weil sie einem vorgaukeln, dass maßgeschneiderte Kleidung leicht zu nähen wäre. Wenn ich mir schon die Mühe mache, dann möchte ich bitteschön auch Mode, die mir tatsächlich passt. Und keine Sorge, natürlich findet der Cardigan auch so einen Platz in meiner Garderobe. Ich meine, ich liebe die Ärmel. Aber es ist halt nicht das Kleidungsstück, das ich wollte, und das ist schade.