Kofferpacken ist eine Kunstform. Die meisten Menschen verstehen das nicht, deshalb enden ihre hilflosen Versuche oft in heillosem Chaos. Man braucht unter Umständen ein ganzes Menschenleben, um alle Geheimnisse des Kofferpackens zu ergründen, um die Psychologie des Vorhabens an sich zu verstehen, ja, um die Welt um einen perfekt gepackten Koffer zu bereichern.
Warnung: Dies ist keine Anleitung! Ungeübte Hände setzen sich ernsthafter Gefahr aus.
Generell lässt sich der Prozess des Kofferpackens in sechs Phasen gliedern, die indes nicht klar voneinander abgegrenzt sind, sondern zum Teil fließend ineinander übergehen. Es bedarf langjähriger Erfahrung, um tatsächlich bestimmen zu können, in welcher Phase man sich gerade befindet. Vorausgesetzt, wenngleich nicht eigens erwähnt, wird eine sogenannte Phase 0, die sich durch das allumfassende Ignorieren der Kofferproblematik auszeichnet und zwischen einem Tag und drei Wochen andauern kann.
In Phase 1, nachdem man das Stadium des Leugnens überwunden hat, betritt man eine Zeit großer Freude. Hoffnungsvoll werden Lieblingskleider gewaschen, nach Farben sortierte Stapel errichtet und der Koffer für seine ungehörige Großräumigkeit bewundert.
Oft ist die Phase 2 eher unscheinbar und kaum von Phase 1 zu unterscheiden, da der anfängliche Optimismus lange anhält und nur widerwillig einer gewissen naiven Ungläubigkeit Platz macht. Man merkt zwar, dass einige Vorstellungen der Realität auf geradezu absurde Weise widersprechen und die Maße des Koffers auf wundersame Weise geschrumpft zu sein scheinen, jedoch mag man es nicht wirklich glauben.
Mit Phase 3 schaltet sich nun endlich der Realitätssinn ein, man spricht auch von der Vernunft-Phase, während der man sehr rational und nüchtern Pro und Kontra gewisser Kleidungsstücke abwägt. Auch wenn vielen diese Phase unnütz erscheint, da man ohnehin nur einen kleinen Stapel tatsächlich aussortiert und hinterher noch immer vor derselben Problematik steht – sie ist wichtig. Sie lehrt einen Demut.
Danach, mit der Erkenntnis, dass noch immer nichts so passt, wie man sich das vorgestellt hat, schlägt die Stimmung in der Regel um. Das ist, wenn die Phase 4 beginnt. Hier ist man an einem heiklen Punkt angekommen, sozusagen der Zen-Phase des Kofferpackens, während der sich jede Störung von außen verheerend auswirken kann. Zudem beginnt man, alte Vorstellungen von Mengenverhältnissen, die sich seit der Schule hartnäckig gehalten haben, neu zu überdenken: Die Definition von Hälfte oder Drittel variiert stark und hängt zu einem nicht geringen Teil von der Stärke der Persönlichkeit ab.
Die anfängliche Frustration wandelt sich in Phase 5 und wird nun zu offener Wut. Dieses Stadium wird von jedem unterschiedlich empfunden. Während einige kaum einen Unterschied zu Phase 4 feststellen können, werden andere zu wahren Berserkern und reagieren sich am Objekt selbst ab. Gemein ist jedoch allen, dass sie nunmehr eine Distanz zum Objekt aufbauen, die zuvor innige Beziehung zu den gebügelten und gewissenhaft gefalteten Kleidern löst sich und resultiert in aggressivem Stopfverhalten. Das bedeutet, man geht dazu über, die Kleidungsstücke in irgendwelche Ecken des Koffers zu drücken, um damit die Physik auszutricksen. Ob es funktioniert, ist eine Frage des Materials, generell haben Menschen mit Hartschalenkoffern größere Probleme, aber auch mehr Selbstkontrolle.
Gemeinhin ist das Kofferpacken an diesem Punkt abgeschlossen. Wie lange es dauert, diese fünf Phasen zu durchlaufen, ist sehr individuell, und oft differieren auch die gefühlte und die tatsächliche Zeit enorm, doch in der Regel ist nun der Augenblick gekommen, sein Werk stolz zu begutachten und die neu gewonnenen Erkenntnisse sacken zu lassen.
Phase 6, die gefährlichste überhaupt, überrascht einen am Tag der Abreise und zeichnet sich durch ein Gefühl blinder Panik aus. Während man in Gedanken noch einmal alles durchgeht, was schlussendlich einen Platz im Koffer gefunden hat, fallen einem nicht nur etliche Dinge ein, die völlig unnötig sind, sondern vor allem solche, die man in der Planung von Anfang an vergessen hat. Gefährlich ist diese Phase auch deshalb, weil sie jedwede Reiseplanung ad absurdum führen kann, wenn man aus den vorangegangenen Phasen nichts gelernt hat. Man merkt, dass man noch lange nicht soweit ist, wenn man dem Drang nachgibt und den Koffer wieder öffnet.
Obwohl diese Phasen natürlich von jedem anders empfunden werden, ist die Reihenfolge doch international anerkannt und von vielen Wissenschaftlern (zum Teil im lebensgefährlichen Selbstversuch) bestätigt. Man sollte nicht ungeduldig werden auf dem Weg zum perfekt gepackten Koffer, volle Konzentration und Mut zum Versagen sind absolut unabdingbar. Denn: Der Koffer ist nicht der Feind.
Hm. Hattest du nicht schon mal was zum Thema Kofferpacken? Ich müsste Lügen, oder verwechsle ich da etwas. (Mein armes Gehirn, es hat es schon manchmal schwer mit mir). Na egal. Jedenfalls herrlich zu lesen, wie du dieses reichhaltige Mille-feuille des Kofferpackens genüsslich auseinander nimmst.
Wettermäßig ist ja im Moment, positiv ausgedrückt, irgendwie durchwachsen. Und mit Wind. Viel, viel Wind. Bei dir auch so viel, oder werde nur ich hier so davon gebeutelt?
Wie dem auch sei. Ich hoffe du hast alle sechs Extasestufen des Kofferpackens fröhlich und vergnügt durchlaufen. Also dann. Keep calm. Erholsame Tage. Und bleib Gesund.
Du hast mich ertappt, das ist ein Oldie, but Goldie. Entstanden ist der Text so vor vier oder fünf Jahren, ich hab ihn jetzt aus der Versenkung geholt und hier und da noch mal etwas aufpoliert. ?
Und ja, Wind ist gerade im Sonderangebot, das ist langsam nicht mehr lustig.
Amüsant geschrieben! Wie wahr, wie wahr.
Besonders perfide, wenn man mitt einem männlichen Mitreisenden packt, der in einem Bruchteil der Zeit fertig ist und nicht verstehen kann, wie man selbst für dieselbe Reisezeit so viel mehr braucht.
Hallooo? Ich brauch Schuhe je nach Anlass, also mit hohen Hacken und Sneaker! Ich brauch meinen eigenen Föhn (Spaceballs lässt grüßen), weil der in Hotels oft ne Gurke ist! Und ich brauch auch definitiv mehr Hygieneartikel als eine Zahnbürste und einen Waschlappen!
Das gute ist, in seinem Koffer ist immer noch Platz für im Urlaub -von mir- Geshopptes. Hey, das ist nur fair!
Am schlimmsten finde ich immer, wenn das Wetter so unberechenbar ist, dass man praktisch für jede Lage etwas einpacken muss. Vor dem Problem stehe ich nämlich gerade: Ich fahre nächste Woche zu meinen Eltern und der Wetterbericht hat von Hitze bis Sturm alles zu bieten. ?
Aber ja, man muss es mit Humor nehmen, und meine Mutter ist definitiv noch schlimmer als ich. ?