Alles eine Frage des richtigen Blickwinkels? Vielleicht. In Videospielen ist es auch immer eine Frage des persönlichen Geschmacks.
Im tiefsten Inneren ist jede Geschichte gleich: Es gibt einen Helden, dessen Welt zu Beginn aus den Fugen gerät. Etwas Grundlegendes ändert sich, neue Möglichkeiten eröffnen sich und bringen Hindernisse mit sich, Herausforderungen, Stolpersteine und Bewährungsproben. Je dichter man dem Helden folgt, je mehr er den Zuschauer in sein Leben lässt, umso dichter und eingängiger das Erlebnis für diesen. Wie in einem Roman ist auch bei einem Spiel die Erzählperspektive ein sorgsam gewähltes Stilmittel. Wo darf der Zuschauer Platz nehmen? Von wo aus verfolgt er das Geschehen? Bis auf ein paar Ausnahmen haben sich bei Videospielen zwei Erzählperspektiven etabliert.
Ich schau dir durch die Augen, Kleines
Zum einen ist da die Egoperspektive, auch First Person Perspective oder FPP genannt. Der Spieler schlüpft in den Helden hinein wie in einen Anzug, sodass dieser aus dem Blickfeld verschwindet. Nur die ausgestreckten Hände, die meistens eine Waffe halten, sind sichtbar. Eventuell noch die Beine, wenn man die Kamera nach unten schwenkt. Man sieht nur, was auch der Held sieht – wobei man die natürliche Wahrnehmung, das periphere Sichtfeld, natürlich nicht wirklich wiedergeben kann. Die FPP-Spieler werden immer eine Art Tunnelblick haben, etwas, das in Horrorspielen gerne genutzt wird, um Spannung aufzubauen.
Dazu kommt, dass die Kamera oft nicht wirklich auf Kopfhöhe sitzt. Vom Sitz der Arme lässt sich dann schließen, dass der Held des Spiels die Augen eher im Brustbereich hat, oder ihm alternativ die Arme aus den Ohren wachsen. Das klingt schräg, ist aber im Spielebetrieb nicht weiter störend. Man hat das Wichtigste, die Waffe, gut im Blick, und nur darum geht es schließlich. Aber die FPP hat ein anderes, weitaus gravierenderes Problem: etwas, das auf Neudeutsch Motion Sickness genannt wird.
Wenn Menschen gehen oder laufen, bewegt sich natürlich auch der Kopf mehr oder weniger ruckartig auf und ab. Unser Gehirn filtert diese Bewegung aus unserer Wahrnehmung heraus, sodass wir einen einigermaßen ruhigen, fixierten Eindruck von unserer Umwelt bekommen. Wir können gehen und gleichzeitig ein Straßenschild lesen, zum Beispiel. Eine wirklich beeindruckende Leistung unseres Gehirns.
Umgesetzt auf eine Spielperspektive ergibt sich allerdings ein Problem. Will man diesen ruhigen, gleichmäßigen Eindruck erzeugen, fühlt sich der Spieler, als bewege sich seine Figur auf Schienen oder schwebe über den Boden. Man hat nicht das Gefühl, als mache sie tatsächliche Schritte, denn anders als bei einem realen Körper fühlt man keine Beinbewegungen, nicht den Boden unter den Sohlen oder sein Gleichgewicht. Nicht wenige Spieler klagen daher über so etwas wie Seekrankheit, Übelkeit, Schwindel, Unwohlsein. Das geht so weit, dass sie nicht in der Lage sind, FPP zu spielen.
Einige Spiele setzen daher darauf, ein leichtes Schwanken oder Hüpfen in ihre Kamerabewegung einzubauen, um Schritte zu simulieren. Leider hilft das nur bedingt, oder es macht die Sache sogar noch schlimmer. FPP ist daher nicht für Jedermann. Zum Einsatz kommt es vornehmlich bei sogenannten Shootern, Spielen also, in der das genaue Zielen über Kimme und Korn seiner Waffe essentiell wichtig ist.
I will follow him …
Die andere Perspektive, die hauptsächlich Verwendung findet, ist die Third Person Perspective (TPP), nach dem ersten berühmteren Spiel, in der sie zum Einsatz kam, auch Tomb Raider-Perspektive genannt. Hier folgt der Spieler seiner Figur aus einiger Entfernung, schwebt manchmal über ihr oder sieht ihr regelrecht über die Schulter. Dabei bleibt der Held immer im Wahrnehmungszentrum, man sieht mehr, als man normalerweise sehen würde, das heißt, auch Angreifer von hinten oder der Seite. Es ist die cineastischste Perspektive, denn die allermeisten Filme, von Blair Witch Project, Cloverfield, Being John Malkovich und Co. einmal abgesehen, lassen uns die Figuren von außen betrachten.
Auch hier gibt es Nachteile, vor allem in actionhaltigeren Szenen. Räume können nicht optimal genutzt werden, denn oft kommt die Kamera in arge Bedrängnis, wenn sich der Held im Feuerkampf rückwärts gegen eine Wand duckt. Kämpfe im Unterholz gestalten sich manchmal schwierig, und es kann vorkommen, dass man mitten im tödlichen Handgemenge plötzlich die Blätter eines im Wege stehenden Baumes betrachten darf. Und dann den Game-Over-Screen.
Diese Perspektive wird in Rollenspielen gern verwendet, da dort meist auch viel mit äußerlichen Veränderungen und Designs des Charakters gearbeitet wird. Oft entwirft man sich seine Figur zu Beginn nach seinen Vorlieben und erhält später im Spiel Outfits, Rüstungen und Accessoires, die man als Spieler natürlich auch gerne ansieht, während man die Figur steuert. Auch sind solche Spiele oft sehr dialoglastig, auch da hat es sich bewährt, die beiden Dialogpartner von außen zu betrachten.
Dieser Tage scheint es bei Gamedesignern einen Trend zum First-Person-Rollenspiel zu geben. Etwas, das sicher nicht neu, aber dennoch gerade kontrovers diskutiert wird. Solchermaßen umstrittene Vertreter, die in einigen Monaten veröffentlicht werden, sind Cyberpunk 2077 und Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2, die beide einen hohen Rollenspielanteil beinhalten sollen, aber auf die FPP zurückgreifen – für maximale Immersion, wie die Entwickler sagen. Man kann sehr unterschiedlicher Meinung sein, was das betrifft.
Ab hier wird es subjektiv
Mir persönlich hat es noch nie an Immersion gemangelt, auch wenn ich meine Figur ständig sehe. Im Gegenteil, dadurch wurde sie noch greifbarer, und in Dialogen schwingt auch in animierten Gesichtern viel Nonverbales mit. Auch wenn sich Synchronsprecher mehr oder weniger Mühe geben, wirklich verstehen wird man einen Dialogpartner wohl erst, wenn man ihm beim Sprechen ins Gesicht sieht. In FPP-Spielen habe ich oft das Problem gehabt, dass ich kein Gefühl für meine Figur aufbauen konnte. Weil ich zwar durch ihre Augen sehe und ihre Stimme höre, aber meine Nervenenden nicht mit ihren Gesichtsmuskeln verbunden sind. In einer Szene aus Cyberpunk 2077 wird die Hauptfigur in einer brenzligen Situation von Schergen des Gegners gegen ein Auto gepresst und durchsucht. Sie macht zwar entsprechende Geräusche und ihr entfährt das ein oder andere „Autsch!“, aber ich weiß nicht, ob sie dabei grinst, oder ob ihr unterdrückte Angst ins Gesicht steht. Ihr Tonfall mag alarmiert sein, aber ist sie es selbst auch?
Durch dieses Fehlen von Information bleibt die Figur für mich fremd und ungreifbar. Es steigert in meinen Augen daher nicht die Immersion, ich kann mich nicht in sie hineindenken und das Spiel dadurch unmittelbarer erleben, weil ich mein Vehikel zwar steuern kann, aber nicht gänzlich begreife. Noch extremer wird es, wenn die Figur dazu nicht einmal spricht. Dann ist man nur noch eine Kamera auf Beinen/Schienen, ohne jeden Charakter. Vielen Spielern macht das nichts aus, sie kosten lieber aus, was ihnen das Spiel sonst noch so bietet: Grandiose Landschaften, sakrisch schwere Gegner, nette Beute oder besonders ausgefeilte Kampftechniken.
Mir persönlich, die sehr auf die Geschichte, die Figuren und ihren Charakter achtet, stößt ein First-Person-Rollenspiel erst einmal ziemlich sauer auf. Ich will nicht bestreiten, dass es gute Vertreter gibt – Kingdom Come Deliverance, beispielsweise, hatte eine Egoperspektive zu einem Mittelalterrollenspiel, aber das funktionierte sogar für mich. Allerdings sah man die Hauptperson, Henry, in jeder Zwischensequenz und jedem Dialog. Und er hatte ein paar wirklich lustige Dialoge, die ihn zu einer „coolen Socke“ stilisiert haben. Genau dabei zählten subtile Dinge wie ein Augenrollen, ein etwas dümmliches Grinsen, ein vielsagendes Ins-Leere-Starren. So etwas muss ich sehen, um es der Figurenpersönlichkeit zuschreiben zu können. Wenn ich das nicht kann … Immersion hin oder her, dann leidet für mich die Tiefe des Erlebens dennoch.
Ich hoffe das Beste für Cyberpunk und Vampire, aber ich merke jetzt schon, dass sie erst einmal eindeutig aus meinem Beuteschema gefallen sind. Vielleicht können sie dennoch überzeugen, warten wir´s ab.
Ich kann ja freilich kaum mitreden, aber an Lara Croft erinnere ich mich natürlich gut. Tomb Raider IV war das einzige Spiel, an dem ich wirklich Spaß hatte, aber ich weiß noch, wie frustrierend das jedesmal war, wenn die Kamera dann irgendwo in einer Wand festhing oder sogar an Laras Brust.
Bei „Myst“ weiß ich noch, dass es ein großes Ding war, als sie später die Perspektive gewechselt haben. Ich kenne es noch als First Person, wo man aber wirklich komplett körperlos war. Drückte man Knöpfte, bewegten die sich einfach von selbst. Da ich nicht viele Vergleiche hatte, hat mich das nie gestört, aber dann haben sie’s bei einem späteren Teil auf Third Person geändert, und damit kam ich dann überhaupt nicht mehr klar.