Pendler-Fragment


Mit einem schweren Schnaufen lässt sich der Mann auf den Platz mir gegenüber fallen. Automatisch öffne ich die Augen, während sich der Zug wieder in Bewegung setzt. Er muss gerannt sein, denn er atmet immer noch laut und kramt dabei in seiner großen Sporttasche herum, aus der rechts einige Zeitungsblätter und Plastiktüten herausfallen. Ich schließe meine Augen wieder und lasse mich von der Bahn sanft schaukeln, doch das Rascheln und Knistern hört nicht auf. Als schließlich ein gedämpftes Klappern ertönt und ich einsehen muss, dass es mit der morgendlichen Ruhe vorbei ist, mache ich meine Augen wieder auf. Der Mann versucht gerade, ein unidentifizierbares Bündel in eine Tüte zu stopfen, und der Müllhaufen im Gang ist mittlerweile um weitere Zeitungen sowie einen Eiswürfelbehälter gewachsen. Nun sehe ich auch, was das Geräusch verursacht hat: ein durchsichtiges Stück Plastik, vielleicht der Deckel irgendeines Gefäßes, ist neben dem Stapel auf dem Boden gelandet. Er ist zu beschäftigt, um meinen Blick zu bemerken, und so lasse ich ihn langsam über seine Erscheinung wandern. Zwischen fünfzig und sechzig schätze ich ihn, seine ungepflegten Haare und sein Bart sind von einem scheckigen Grau. Die Steppjacke, die er trägt, weist einige Verschleißspuren auf, doch eigentlich ist er unauffällig. Beim Blick auf seine Füße muss ich ein Lachen unterdrücken. Zwar trägt er Socken, doch ihre Fersen sind schon vor langer Zeit aufgerissen und lassen seine blanken Hacken am Rand der Sneaker sehen. Als er sich leicht zur Seite dreht, um endlich seine Sachen aufzusammeln, nutzt die junge Frau, die neben ihm sitzt, die Gelegenheit zur Flucht. Jetzt erst steigt mir der Geruch, der von dem Mann ausgeht, in die Nase, und unwillkürlich halte ich die Luft an. Die einzelnen Bestandteile sind längst nicht mehr auszumachen, vielmehr entströmt jeder Pore seines Körpers eine Art Urgeruch, dunkel und intensiv. So müssen alle Menschen vor Erfindung des Deodorants gerochen haben, schießt es mir durch den Kopf, ein schrecklicher Gedanke. Vorsichtig schnappe ich wieder nach Luft und stelle erleichtert fest, dass die Parfümwolke meiner Nachbarin die Führung übernommen hat. Mein Blick fällt auf die Anzeigentafel. Fast am Ziel. Wieder wandert meine Aufmerksamkeit zu dem Mann, der seine prall gefüllte Sporttasche nun fest an sich drückt. Wohin er damit wohl fährt? Vor ein paar Monaten hätte diese Frage mein Gehirn noch beschäftigt, doch der tägliche Trott des Pendelns hat mich abgestumpft, und so verklingt das Rätsel leise in meinen Nervenbahnen. Meine Haltestelle wird durchgesagt und ich stehe auf, um nicht im Pulk an der Tür steckenzubleiben. Ein normaler Tag.