Als ich irgendwann in jungen Jahren erfuhr, dass die Szenen von Filmen nicht in der Reihenfolge gedreht werden, wie wir sie später sehen, brach mein Weltbild ein kleines bisschen zusammen. Die Vorstellung, dass die Chronologie beim Erzählen einer Geschichte nicht von Bedeutung ist, durchbrach für mich die vierte Wand und veränderte die Art und Weise, wie ich Filme sehe, für immer.
Es dauerte allerdings noch viele Jahre, bis ich erkannte, dass dies für jede Art von Erzählung gilt. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass ich in meinen eigenen Geschichten oft selbst gar nicht wusste, was als nächstes passieren wird. Als ich mit dem Schreiben begann, plante ich nicht, manchmal hatte ich nur eine Ausgangssituation und ließ die Protagonisten damit gewissermaßen allein. Diese Technik hat ihre Berechtigung, und zuweilen bedaure ich es sogar, dass ich diese Art des Schreibens völlig verlernt habe.
Dennoch sollte man sich bewusst machen, dass auch beim Drehen eines Films zunächst einmal die Geschichte existieren muss. Eben nur, weil die Handlung bereits festgelegt ist, ist es möglich, sie in einzelne Szenen und Sequenzen zu zerlegen und unabhängig ihrer Chronologie zu erzählen. Beim Schreiben ist das nicht so einfach. Ein Satz, der im ersten Kapitel gesagt wird, wird möglicherweise erst im vierten Kapitel wichtig, ich muss aber vor dem Schreiben des vierten Kapitels mit Sicherheit wissen, dass dieser Satz gesprochen wurde. Es ist daher immer einfacher, erst das erste, zweite, dritte Kapitel zu schreiben, bevor ich das vierte in Angriff nehme.
Nichtsdestoweniger ist es möglich, auch einen Roman vor dem Schreiben in seine Bestandteile zu zerlegen. Voraussetzung ist natürlich eine exzellente Planung, die bereits im Vorfeld genauestens festlegt, was wann zu geschehen hat. Selbst dann kann noch vieles anders kommen als man denkt, Schreiben ist eben kein rein handwerklicher, sondern auch ein kreativer Prozess. Ich gestehe, es hat einen gewissen Reiz, sich von der Chronologie einer Geschichte zu lösen und geradezu gottgleich Momente herauszugreifen. Als ich das Ende von „Dhenari“ schrieb, befand ich mich erst ungefähr in der Mitte des Romans, und rückblickend war das nicht einfach nur ein Festhalten einer Idee, sondern hat auch meinen Blick auf das noch zu Schreibende verändert. Ich sehe klarer, welche Voraussetzungen ich schaffen muss, um das Ziel zu erreichen.
Ich denke trotzdem, dass diese Technik für mich die Ausnahme bleiben wird. Als die vierte Wand beim Film fiel, verlor das Kino seine Magie. Beim Schreiben kenne ich diesen Zauber noch, die Aufregung des Nichtwissens, dieses erhebende Gefühl, wenn sich die Teile nach und nach zu einem großen Ganzen fügen. Und vor allem natürlich das heilige Ritual des letzten Satzes.